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28. Januar – 10. März 2012

Collectif_fact: Annelore Schneider & Claude Piguet | »Out of Place«

Die Illusion des Sehens

In der Galerie Paul Hafner erkundet das aus Neuchâtel stammende Künstlerpaar, Annelore Schneider und Claude Piguet, die Möglichkeiten der digitalen Künste. Werke voller Ästhetik und Humor.

Alfred Hitchcock erklärte seinem Gesprächspartner François Truffaut den Begriff »Suspense« folgendermassen: »Wenn eine versteckte Bombe unter einem Tisch, an dem mehrere Leute frühstücken, plötzlich explodiert, ist dies ein Schreck und unterhält 20 Sekunden lang; wenn der Zuschauer die Lunte jedoch lange brennen sieht und die Figuren nichts davon ahnen, ist dies Suspense (...). Einsatz filmischer Mittel und Kosten bleiben sich gleich, mit besserem Effekt.«
Nicht, dass man nun befürchten müsste, es platze gleich eine Bombe, aber der Eindruck von »Suspense«, von unheimlich- spannungsgeladener Atmosphäre, stellt sich unmittelbar ein. Da ist die unverkennbare Stimme jenes Meisters zu vernehmen, der dieses Element virtuos einzusetzen wusste. Sie dringt aus dem dafür eingerichteten Video-Kabäuschen. In der Galerie Hafner wird man dort hineingezogen wie von einem Sog. Man sieht, wie die Kamera auf ein Haus gerichtet ist, es ins »Visier« nimmt, nahe herangeht, der Fassade entlangstreift. Wir als Zuschauer werden dazu aufgefordert, das Haus zu betreten, hinter Türen zu schauen, über die Treppe in den ersten Stock zu steigen. Ein Bad, Lavabos, ein Sofa, alles fein hergerichtet und in bester Ordnung. Während die Stimme vom Schauplatz eines grausigen Mordes erzählt, »da sieht man die Frau das erste Mal am Fenster« sehr bedächtig – mit »Suspense« – können wir die Szene nicht in Verbindung mit dem Geschehen bringen. Unsere Aufmerksamkeit schlägt Purzelbäume, denn die Schilderung scheint nicht mit dem Ort in Verbindung zu stehen. Zwei Welten, zwei Szenen. Was wird hier gespielt?

Thriller im Kopf
Es handelt sich um eine Videoarbeit von collectif_fact, des Künstlerpaares Annelore Schneider und Claude Piguet, welches sich mit »Out of place« der Illusion bedient. Und es funktioniert. Wir sind, hinhörend und -sehend, geneigt, zuzuordnen: Orte zu Menschen, Erklärung zu Handlung. Und stellen nun fest, dass wir mit den Instrumenten der neuen Medien schalkhaft auf eine falsche Fährte geführt und virtuell verführt werden.
Schneider/Piguet haben den von Hitchcock persönlich gesprochenen Trailer zum Film »Psycho« in das Maison Blanche, hoch über La-Chaux-de-Fonds gelegen, verlegt. Es ist das erste von Le Corbusier als selbständiger Architekt gebaute Haus und hier die »Bühne« für Scheinbares, dem wir gebannt folgen, um später entspannt zu lächeln. Auch die Hochglanzbilder hinter Plexiglas zeigen vordergründig eine propere Welt: kein Wölkchen trübt den Himmel. Kein Stäublein die Fassaden der Strassenzüge. Alles schön.

Täuschend echt
Ein Hinterhalt? Ein Such-, ein Vexierbild, so, wie es der sechzehn Jahre vor Hitchcock geborene Franz Kafka geschrieben hatte? »Das Versteckte in einem Vexierbild ist deutlich und unsichtbar. Deutlich für den, der gefunden hat, wonach zu schauen er aufgefordert war, unsichtbar für den, der gar nicht weiss, dass es etwas zu Suchen gilt.« Als Betrachtende haben wir hier die Wahl: Wir können über den Hyperrealismus dieser in ausgeklügelter Inkjet Printtechnik sinnieren, oder »hinter« die Fassaden schauen, wo in diesem Falle nichts ist. Wie gerne lassen wir uns täuschen?, dürfte die im kunstgeschichtlichen und – weltpolitischen Kontext historisch verbürgte Fragestellung lauten. collectif_fact bietet faktisch ein Schelmenstück möglicher Aufmerksamkeitsdefizite, sehen wir hier doch keine »wirkliche« Stadt, sondern die Eins-zu-eins--Aufnahmen der Warner Brothers Filmstudios in Los Angeles. Humorvoll auch die grossformatigen Artefakte mit dem Titel Finsbury. Jene im gleichnamigen Stadtteil von London entstandenen und am Computer bearbeiteten Bilder dürfen eigentlich nicht »erschlossen« werden. Am spannendsten ist es nämlich, wenn man davor steht und versucht, herauszufinden, wie die Aufnahmen manipuliert worden sind...
Auf die Spitze der »Illusion« getrieben sind die ebenfalls im Inkjet-Printverfahren hergestellten ornamentalen »Zeichnungen«. Wie Seidenpapierknäuel oder Entwürfe eines Stickereizeichners für Gebirgszüge wirken die Logos von Hollywood-Filmproduktionsfirmen.
Künstlerische Gipfelstürmer, diese beiden mehrfach ausgezeichneten Welschen. Nicht verpassen!

Brigitte Schmid-Gugler
St.Galler Tagblatt | 3. Februar 2012